ITALIEN
Zehntausende protestieren gegen Bau einer Hochgeschwindigkeitstrasse im
Susa-Tal
Bei
Bauarbeiten wird Uran und Asbest freigesetzt / Interessenkonflikt der Regierung
/ Verschwendung von Steuergeldern
Das Susatal liegt
in Piemont, Italien, westlich vor den Toren Turins. Es ist etwa 70 km lang und
ca 1-2 km breit. Es teilt sich geographisch in ein „oberes“ Tal, in dem etwa
10.000 Menschen leben und wo im Februar die Olympischen Winterspiele
stattfinden werden, und ein „unteres“ Tal, in dem etwa 70.000 Menschen leben.
Es gibt hier einen Fluss, die Dora Riparia, hohe Berge, den Rocciamelone (3.538
m),eine Autobahn, die A32 mit dem Frejustunnel, zwei Bundesstraßen und eine
Eisenbahnlinie, die alle nach Frankreich führen. Seit Jahrtausenden verlaufen
durch das Tal die Handels- und Pilgerwege nach Savoyen und in die Provence.
Schon Hannibal kam hier über die Alpen, und ein bisschen später auch Napoleon.
Etwa von 1989
stammt ein konkretes Projekt für den Bau einer Hochgeschwindigkeitstrasse Lyon-Turin
(italienisch „TAV“), die sich direkt an die Strecke Neapel-Mailand-Turin
(bereits im Bau) anschließt. Das Projekt wurde zunächst als Verbesserung der
Personenbeförderung schmackhaft gemacht, jetzt aber, wegen zu geringer
Auslastung der bereits bestehenden Bahnlinie, soll es als
Gütertransportverbindung fungieren, mit der man die ca 4.500 LKWs, die täglich
hier durchrauschen (35% aller Güter, die über die Alpen transportiert werden
passieren das Susatal), auf die Schiene kriegen will. Nach neuesten Hochrechnungen
(der französischen Gesellschaft SETEC, nicht der Gegner) wird sich aber gerade
mal 1% auf die Schiene verlagern!
Das Ganze soll 20
Milliarden € kosten, aus Erfahrung
rechnet man aber schon jetzt mit etwa zwei- bis dreimal soviel.
Die Trassenführung
sieht den Bau mehrerer Tunnels vor. Der erste, ca 23 km lang, muss durch Asbest
haltiges Gestein, der letzte ‑ von Venaus nach Frankreich und gut 53 km
lang ‑ durch uranhaltiges Gestein geführt werden. Bereits 1997 wurden
Gesteinsproben von letzterem durch die ARPA (regionale Umweltschutzbehörde)
analysiert: Sie sind so stark Uran haltig, dass sie unter das
Strahlenschutzgesetz fallen!
Nach dem Zweiten
Weltkrieg wollte man dort Uran für die friedliche Nutzung abbauen. Aus dieser
Zeit existieren noch einige Stollen, in denen kürzlich mit einem Geigerzähler
die radioaktive Strahlung gemessen wurde: Sie übertrifft die
Normalstrahlung im Tal etwa
tausendfach!
Für die
Zwischenlagerung des Asbestaushubs wurde unter anderem ein Gelände neben einem
Sportplatz ausgewiesen. Doch im Tal wehen ca 100 Tage im Jahr Winde mit
Geschwindigkeiten von ca 150 km/h direkt nach Turin (Asbeststaub =>
Mesoteliom, ein unheilbarer Lungenkrebs). Damit der Aushub überhaupt
weggeschafft werden kann, sollen zwölf Seitentunnels gegraben werden mit
unabsehbaren Folgen für das Grundwasser und die Luft: 15 Jahre lang (geplante
Bauzeit) werden hier Tag und Nacht Lastwagen ( 2300 pro Tag) den Asbestaushub
über Feldwege und durch enge Dorfgassen transportieren.
Dies alles
betrifft direkt oder indirekt etwa 450 000 Anwohner der Provinz Turin.
Das Projekt soll
die darniederliegende italienische Wirtschaft ankurbeln, indem private Gelder
fließen. In Wirklichkeit jedoch handelt es sich um öffentliche Mittel,
versteckt hinter privat verwalteten Aktiengesellschaften und dem „General
Contractor“.
Es entsteht der
Eindruck, das Projekt nütze vor allem den Firmen, die am Bau beteiligt sind.
Dazu gehört z.B. die Firma Rocksoil, bis vor kurzem Eigentum des Ministers für
Transport und Verkehr, Pietro Lunardi, (er hat den Betrieb kürzlich an seine
Kinder abgetreten: Interessenkonflikt gelöst, auf italienische Art). Die großen
Baufirmen treten dann Einzellose an kleinere Firmen ab und diese an noch
kleinere, bis niemand mehr weiß, wer jetzt wo was baut, woran die Mafia (die es
nicht nur in Sizilien gibt, sondern überall, wo Geld fließt) immer am besten
verdient.
Es gibt durchaus
Alternativen, wir wollen ja keinen NIMBY(not-in-my backyard)-Effekt: Die
bereits bestehende Bahnlinie ist nur zu 38% ausgelastet und könnte mit nur etwa
1 Milliarde € an Investitionen so modernisiert werden, dass ihre Kapazitäten
verdoppelt würden (von jetzt etwa 8,5 Mio Tonnen /Jahr auf 20). Man rechnet mit
einer Nachfrage von etwa 21 Mio Tonnen in etwa 10 Jahren, wobei nicht berücksichtigt
wurde, dass zwar der Warenwert steigt, das Gewicht aber sinkt, weil immer
weniger Rohstoffe transportiert werden.
Die Bahnlinien
entlang der Küste nach Nizza, gar nicht weit von hier, sowie am Gotthard und
Lötschberg befinden sich bereits im Ausbau und können einen Teil des
Warentransports übernehmen. Die errechneten Kapazitäten der
Hochgeschwindigkeitstrasse von etwa 40 Mio Tonnen/Jahr sind also gar nicht
notwendig. (Siehe auch Artikel
„il sole 24 ore“, 22/11/2005 „Ma il Brennero è molto più urgente”). Und das gilt nicht nur für Lyon-Turin,
sondern auch für den Brenner.
Die Bewohner des
Susatales wehren sich gegen diese Pläne. Schon seit Jahren gibt es ein
„comitato no-tav“ hinter dem mittlerweile etwa 90 % der Bevölkerung stehen,
angeführt von den Bürgermeistern der 45 Gemeinden des Tales, der Verbände
Oberes und Unteres Susatal, unterstützt von einigen kleineren Parteien und
allen Umweltorganisationen der Gegend. Alle Entscheidungen über Aktionen und
Aktivitäten werden in öffentlichen Versammlungen getroffen, demokratischer
geht’s nicht!
Der konkrete
Protest begann dieses Frühjahr, als die Bauarbeiten, als Probebohrungen
getarnt, beginnen sollten. Im Juni fand im Tal eine Demonstration mit etwa
30.000 Teilnehmern statt, drei Hüttendörfer wurden errichtet, um die
Probebohrungen zu verhindern (nie war irgendjemand vom Tal zu einem Dialog mit
der Regierung geladen worden!), die ja eigentlich überflüssig sind. Am
16.11.2005 war im Valsusa Generalstreik, mit einem Marsch von Bussoleno nach
Susa mit 70.000 Teilnehmern wurde friedlich gegen dieses Projekt demonstriert.
Die Bohrungen,
möglich nur unter Einsatz von Polizei und Carabinieri, sollten vor dem
30.11.2005 beginnen, da laut Regierung andernfalls die Europazuschüsse gestoppt
würden, und in Venaus (500 Einwohner) begann eine Belagerung: Um die Hütte des
Ortsvereins(pro loco) herum, wo es abends Glühwein, Polenta und
Ziehharmonikamusik gab, wurden Dutzende Zelte aufgeschlagen, wo Tag und Nacht
jeder, der Zeit hatte, an der „Belagerung“ teilnahm: Alter von 0 bis 90,
Gesinnung no- tav( rechts und links gibt’s hier nicht mehr, nur noch dafür oder
dagegen).
Bis zur Nacht des
5.12.2005.
Um etwa 2 Uhr
Nachts wurden die „Besetzer“, ob 18 oder 80 Jahre alt, ohne Vorwarnung von
Polizei und Carabinieri aus dem Schlaf geprügelt, das Gelände von Baggern
überrollt, der Vizepolizeipräsident lief brüllend voran. Fazit 22 Verletzte,
Venaus isoliert und vom Rest der Welt militärisch abgeriegelt.
Am Morgen darauf
traf sich spontan alles, was konnte, zur Versammlung, man sperrte die Autobahn,
sämtliche Straßen und die Eisenbahnlinie wurden blockiert, das Valsusa war de
facto den ganzen Tag über abgeriegelt. Anwohner brachten belegte Brötchen,
Schokolade und Getränke für alle, die am Morgen auf dem Weg zur Arbeit einfach
umgekehrt waren, um sich an den Protestaktionen zu beteiligen. Die Barrikaden
wurden erst am Abend geräumt, nachdem die Polizei abgezogen worden war. Die
Nacht-und Nebelaktion der Regierung war zum Eigentor geworden!
Auch am Mittwoch war
das Tal blockiert. Am 8.12.2005, in Italien Feiertag, eine große Demonstration,
unter dem Motto „wir nehmen uns Venaus zurück“. 50.000 Menschen marschierten
auf Venaus, die Menge ergoss sich über Bergpfade, alte Partisanenwege und am
Ende auch über die Straßen bis zum Ziel ‑ das gewaltige Polizeiaufgebot
konnte sie trotz Prügel und Tränengaswerfer nicht daran hindern.
Fazit: Unter
politischen Druck geraten luden Innenminister Pisanu und Verkehrsminister
Lunardi eine Delegation der Susatalbürgermeister am 10.12.2005 nach Rom zu einem „Dialog“ ein.
Das erste Mal!
Das Ergebnis war
aber eher enttäuschend: Staat (Mitte-rechts regiert) , Land, Provinz und Stadt
Turin ( alle Mitte-links regiert) geht es einzig und allein darum, in Ruhe di
Olympischen Winterspiele stattfinden zu lassen. Es wurde einseitig ein Dokument
unterschrieben in dem man uns versichert, dass alle Umwelt- und
Gesundheitsprobleme gelöst werden, Alternativvorschläge unsererseits sind
überhaupt nicht beachtet worden, die Trasse soll gebaut werden, koste es, was
es wolle. Sowas nennt sich dann „Dialog“.
Am 17. Dezember
fand in Turin eine grosse Demo mit über 50 000 Teilnehmern statt.
In der
Zwischenzeit ist auch die „Belagerungshütte“ in Venaus , gegenüber der
Bohrstelle, mit vereinten Kräften wieder aufgebaut worden und das Valsusa
schickt sich an dort Sylvester zu feiern. Falls Sie zur Olympiade um den Weg
sind, sollten Sie uns da mal besuchen!
Fortsetzung
folgt.
Weitere
Informationen (leider bislang nur auf Italienisch):
www.valdellatorre.it/associazioni/notav
Ein Dankeschön an
Martina Moog, Torino, Petra Bräutigam, Eckernförde und Oscar von Legambiente
Valsusa
Kontaktadressen
für Interessierte (deutsch)
Sabine Bräutigam
tel. 0039
3337370231
0039 3357544886
Martina Moog